Entdecken Sie Kinderlandverschickung - Ruhrpottstory

Mutter-und-Kind-Landverschickung

Edith und ihre Freundin Lotti kamen Ostern in die Schule. Davon wollten die beiden aber noch nichts hören. Ich dachte aber schon oft daran: Hoffentlich ist bis dahin der Krieg zu Ende. Es gab immer mehr Fliegeralarm. Die Mütter mit den Kindern sollten evakuiert werden, damit wenigstens sie in Sicherheit waren. Ich sträubte mich mit Händen und Füßen, ich wollte meine Lieben nicht alleine lassen, und Dötken war ja noch so klein. Kinderlandverschickung 1941 Es vergingen Monate. Wir hatten schon April. Alle sprachen mir gut zu: Du musst an die Kinder denken, wenn ihnen etwas passiert, würdest du es dir nie verzeihen. Und was so viele können, das kannst du doch auch. Ich hatte schon zum dritten Mal Bescheid bekommen: In vier Wochen, am 12. Mai, ging der Transport los. Ich dachte: Zwei Kinder, und unser Dötken ist noch so klein und zart und empfindlich, hoffentlich bekomme ich da auch Alete-Milch, sonst sehe ich aber schwarz. 100 »Wenn nicht«, sagte Erwin, »dann schicke ich dir welche.« Meine Nachbarin hatte auch Bescheid, sie hieß Frau Möhl und hatte drei Kinder. Ihr Mann war schon ein paar Jahre im Krieg. Sie war eine sehr liebe und verträgliche Frau. Da entschloss ich mich dann mitzufahren. Mein Erwin und auch Mutter waren froh: »Dann seid ihr doch wenigstens nicht mehr in Gefahr.« Jetzt wurde gepackt. Es sollte vorerst für ein halbes Jahr sein. Edith und Frau Möhls Kinder freuten sich schon wie die Könige, dass sie mit dem Zug fahren konnten. Aber ich war so aufgeregt, konnte nachts kaum noch schlafen. Was mir nicht alles im Kopf herumging! Hoffentlich werden die Leute nett zu meinen Kindern sein. Aber dann war es endlich so weit. Der Bahnsteig in Dortmund war schwarz von Menschen. Alles Mütter mit ihren Kindern. Die Männer, die sich von ihren Lieben verabschieden wollten, konnte man zählen. Die meisten waren ja im Krieg. Meinem Mann tränten die Augen, ich hätte nie geglaubt, dass ihm der Abschied so schwerfallen würde. Er zeigte nicht oft seine Gefühle. Ich heulte auch einfach los. Und ich hatte mir doch so fest vorgenommen, stark zu bleiben. Am schlimmsten waren die Omis. Unsere war nicht mitgegangen. Sie sagte: »Hilde, was denkst du, was Edith für ein Theater macht?« Sie hatte recht. Die Kinder heulten, als säßen sie am Spieß. Sie wollten gerne die Omas mitnehmen. Aber als der Zug sich in Bewegung setzte, wurden sie still. Alles drängelte sich an die Fenster und winkte mit den Taschentüchern, bis nichts mehr zu sehen war. Das hätte wohl niemand gedacht, dass der Abschied so schwerfallen würde. 101 Dann gingen die Kinder auf ihre Plätze. Es gab ja zum Trost für jeden etwas zu trinken. Sie hatten ihren Kummer schnell vergessen. Bei uns Frauen war das anders. Wo werden wir wohl landen? Die Fahrt lenkte uns ein bisschen ab. Das Siebengebirge, der Drachenfels, dann die Mosel mit ihren vielen Weinbergen. So eine schöne Fahrt! Und die Stimmung erst! Jeder gab sein Bestes. Nun nahte schon die Eifel mit ihren Burgen. An jeder Station stiegen einige aus. Frau Möhl, Frau Drewitz und ich kamen in einen Kurort: Manderscheid. Wir wurden mit Pferd und Wagen abgeholt. Es ging über hohe Berge. Wir konnten nur immer wieder sagen: »Herrlich! Herrlich!« Uns verschlug es fast die Sprache. Für einen Moment hatten wir all unsere Sorgen vergessen. Aber dann kam das Fiasko: Als wir im Hotel ankamen, sahen wir, dass keine Bade- und Waschgelegenheit für unser Dötken vorhanden war. Ich war verzweifelt. Sonst waren die Leute sehr nett. Der Tisch war hübsch gedeckt. Es gab Spargel mit gekochtem Schinken. Ich hatte nie zuvor Spargel gegessen, auch Frau Möhl nicht. Für diesen Tag hatte ich noch genug Alete-Milch für unser Dötken, aber es wurde immer weniger. Am Abend fielen wir müde ins Bett, selbst meine Edith-Maus. Am anderen Morgen stand schon unser Frühstück auf dem Tisch. Aber ich konnte nicht bleiben. Ich ging in die Apotheke und wollte für Dötken einkaufen. Alete-Milch gab es nicht. Die Frau fragte: »Warum sind Sie so verzweifelt?« Worauf ich antwortete: »Die Leute sind so nett, aber es gibt keine Waschgelegenheit für mein Baby.« »Passen Sie auf, ich gebe Ihnen eine Adresse von sehr, 102 sehr netten Leuten, Familie Pias, Mosebergstraße 35. Sagen Sie, dass ich Sie geschickt habe.« »Oh Gott, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Ich rannte gleich los. Die Frau war mir gleich sympathisch. Sie waren sechs Personen, drei Töchter, ein Opa, Herr und Frau Pias. Sie wollten sich gerne das Geld mitnehmen, das die Regierung für uns bezahlte. Das war ja nicht wenig. Sie hatten einen kleinen Hof, alles pieksauber. Ich versprach ihnen, dass ich helfen würde, wo ich könne. Die jüngste Tochter nahm einen Leiterwagen, um meine Koffer zu holen. Ich nahm meine beiden Schätzchen, verabschiedete mich von Frau Möhle und der Wirtin. Sie sah ein, dass hier kein Platz für ein Baby war. Frau Pias war eine herzensgute Frau. Die Familie hatte uns gleich ins Herz geschlossen. Bei uns war es genauso. Wir hatten ein schönes Zimmer, nur kein Kinderbettchen. Frau Pias holte einen Wäschekorb, ein paar Kissen, welche frisch bezogen wurden. Sie zeigte mir, wo ich meine Kinderwäsche waschen konnte. »Frau Niggetiet, Sie können sich hier bewegen wie zu Hause. Für Ihre Kinder ist gesorgt.« Ihre Töchter waren schon erwachsen. Sie waren ganz in meine beiden Schätzchen vernarrt. Edith war ein prächtiges Kind. Aber Dötken war so zart und wollte nicht essen. »Das kriegen wir schon hin. Wir haben Kühe, da können die Kinder so viel Milch trinken, wie sie mögen.« »Ach, Frau Pias, leider geht das nicht, die Kleine verträgt nur Alete-Milch. Sie ist so sehr empfindlich. Ich schreibe noch heute Abend einen Brief, dass mein Mann die Milch schicken soll. Sie ist in Pulverform und wird in Wasser aufgelöst. 103 Frau Pias, ich bin so glücklich, dass meine Kinder gut aufgehoben sind. Ich glaube, Sie werden es nicht bereuen. Ich helfe Ihnen, wo ich kann. An Arbeit fehlt es ja nicht.« »Das ist gut so. Da überwindet man die Trennung leichter.« Hilde mit Edith und Dötken Des Morgens war der Frühstückstisch gedeckt. Es gab ein wenig Butter, Klatschkäse und selbstgemachtes Brot. Meine Edith war nicht begeistert, das kannte sie nicht. Frau Pias merkte es gleich und holte noch ein kleines Schälchen mit Marmelade. Das schmeckte dem Stummel schon besser. Ich badete Dötken und gab ihr das Fläschchen. Da meinte Frau Pias: »Jetzt können Sie erst mal Ihre Bekannten besuchen.« »Oh nein, das hat Zeit bis heute Nachmittag. Jetzt helfe ich erst mal. Sie wollten doch aufs Feld. Da mache ich die Hausarbeit.« »Aber Frau Niggetiet, das können wir doch nicht verlangen!« 104 »Ich mache es aber gerne.« Anna ging mit. Herr Pias musste alles Getreide mit der Sense schneiden. Anna, Johanna und Frau Pias machten Garben daraus und stellten sie auf. So trocknete alles schneller. Dann musste noch das Gras geschnitten und hinterher ein paarmal gewendet werden. Ich half manchmal dabei, da ich das ja von zu Hause kannte, wenn Heini Gras geschnitten hatte für die Ziege und die Kaninchen. Es kam einem alles wieder zugute. Die brauchten im Winter ja auch Heu. Je öfter man es wendete, umso schneller konnte es eingefahren werden. Familie Pias war ganz erstaunt, was ich so alles schaffte. Für mich war das Schönste, dass wir immer am gedeckten Tisch sitzen konnten. Frau Pias kochte nicht schlecht. Vor dem Essen wurde immer das Vaterunser gebetet. Das sprach meistens der Großvater. Es war Herrn Pias’ Vater. Er wurde überhaupt nicht groß beachtet. Seine Glieder waren steif vom Arbeiten, und er konnte sich nur auf zwei Stöcken bewegen. Darum mochten sie ihn wohl nicht. Das tat mir schrecklich leid, daher versuchte ich, ihm das Leben ein bisschen schöner zu machen. Dötken saß jetzt schon im Wagen. Am Nachmittag, wenn alle fertig waren, trafen wir drei Frauen uns. Wie haben die Kinder da herumgetobt! Es war ja alles nur Wald, alte Burgen und überall kleine Tempelchen mit Tischen und Bänken. Da konnten wir unsere Briefe schreiben. Ich verfasste noch so manches schöne Gedicht, da ich so gefangen war von der schönen Natur. Ich möchte noch von zwei schönen Begebenheiten berichten, als wir schon ein paar Wochen da waren. »Oh!«, rief ich, »seht nur die herrlichen Tannen! Kerzengerade und so hoch, als berührten sie den Himmel.« 105 Die Kinder rannten immer voraus: »Mutti! Mutti!«, rief Edith, »sieh nur, Blumen im Wasser.« »Mein Kind, das sind Seerosen.« Um den See herum alles kleine Nischen mit Bänken. Meine Bekannten waren sonst kein bisschen romantisch, aber dieser Anblick fesselte sie doch. Frau Drewes sagte: »Hilde, hoffentlich hast du dein Büchlein dabei. Das hier wird wohl dein schönstes Gedicht.« Sie hatte recht. Es war das Schönste, was ich je geschrieben habe. Die Kinder hatten, ohne dass wir es gesehen hatten, ein paar Seerosen abgerissen. Wir schimpften mit ihnen. Aber die Kleinen wussten doch nicht, dass das verboten war. Jeder durfte eine behalten, aber dass es nur niemand sah! Frau Drewes meinte: »Seht nur das Dötken, wie gerade es sitzt. Und mein Kleiner ist schon ein halbes Jahr älter und liegt immer nur auf dem Rücken.« »Ach, mach dir doch keine Sorgen, er ist nur zu dick und zu schwer.« Dann warsie beruhigt. Es wurde schon langsam dunkel. »Kinder, es wird Zeit.« Sie konnten einfach kein Ende finden, waren so glücklich! Hatten längst den Fliegeralarm vergessen. Sie konnten toben bergauf, bergab, durch die alten Burgen flitzen, barfuß durch die kleinen Bäche waten. Und die gesunde Luft! Selbst wir Frauen dachten oft an nichts und niemanden mehr. Die beiden beneideten mich immer, dass mein Erwin nicht in den Krieg brauchte. Frau Möhle hatte schon sechs Wochen keine Nachricht von ihrem Mann. Das machte uns alle oft traurig. Aber wir ließen uns nichts anmerken und versuchten, ihr Mut zu machen. Sie war ein lustiger Typ und nahm es nicht so ernst. 106 Ich bekam jeden zweiten Tag Post und schrieb jeden Abend einen langen Brief mit einem kleinen Verschen dabei. Frau Pias stand schon in der Haustür und fragte: »Frau Niggetiet, wir haben uns heute schon Sorgen gemacht.« Frau Möhle meinte: »Unserer Wirtin ist es egal, wann wir nach Hause kommen. Um uns macht sich keiner Gedanken.« Ich antwortete: »Da seid ihr aber auch selber etwas schuld. Ihr müsst den Leuten auch mal ein bisschen bei der Arbeit helfen. Das wirkt Wunder. Versucht es doch mal! Die haben es auch nicht leicht: jeden Tag fremde Menschen um sich herum.« »Hör mal, dafür werden sie ja gut bezahlt.« »Ich würde es trotzdem mal versuchen.« »Hilde, vielleicht hast du recht.« Frau Pias grinste sich eins ins Fäustchen. Ich sagte: »Heute war es besonders schön.« »Dann lesen Sie uns Ihr Gedicht vor!« Das machte ich dann. »Oh Gott, wie schön!«, sagte Änne. »Können Sie mir nicht mal eines schreiben für unbekannte Soldaten, die ich in meinen Briefen immer bedenke?« »Sicher, Änneken. Wenn ich nur das Richtige treffe.« Wir verstanden uns alle prima. Herr Pias fragte oft: »Wie steht es Ihnen denn ums Herz, Hildchen?« Nur Johanna war ein kleines Biest. Elisabeth, die Älteste, war in Neuenahr. Sie war Serviererin, verdiente viel Geld und konnte ihre Familie ein bisschen unterstützen. Der kleine Hof brachte nicht allzu viel ein, es reichte gerade für Essen und Kleidung. Sie machten ihre Kleider alle selbst. Wenn ich sie ihnen dann noch ein bisschen bestickte, waren sie begeistert, wie hübsch das gleich aus- 107 sah. Meine Edith, Dötken und auch ich trugen nur selbstgemachte Sachen. Manchmal hatten die Kinder nur Kleidchen aus Nessel und ganz bestickt. Da schaute uns so mancher nach. Die Schlüpferchen und Söckchen strickte ich aus Baumwolle. Nur Nähen lag mir nicht. Es war zu dumm. Aber wer kann schon alles … Abends musste ich immer mit meiner Edith ins Bett. Das verstanden die Leute nicht. Ich war aber froh, wenn ich ein bisschen für mich allein war, da konnte ich in aller Ruhe an meine Lieben daheim denken. Es war ja zu Hause noch viel, viel schlimmer mit den Alarmen geworden. »Sieh nur, Mutti, unser Dötken sieht so süß aus! Wie ein Engelchen. Sie hat schon richtig dicke Bäckchen bekommen«, schrieb ich Mutter. Die Flieger mit ihren Bomben flogen abends über uns hinweg, dann beteten wir, dass der liebe Gott unsere Lieben beschützen möge. Wie viele Tote wir zu Hause durch Bombenangriffe zu beklagen hatten, wusste niemand. Erwin schrieb zwar immer, wir brauchten uns keine Sorgen zu machen und ich sollte ja mit den Kindern ausharren. Auch Mutter und die Jungen schrieben es immer und immer wieder: »Es ist das Beste für dich und unsere Lieblinge. Sicher, wir haben schon manchmal ein bisschen Heimweh. Das unterdrücken wir aber schnell wieder. Die Vernunft muss siegen.« Erich ging es auch ein bisschen besser. Erwin nahm das Kantinenessen in der Fabrik in Anspruch. Er musste ja zwölf Stunden arbeiten, manchmal auch noch mehr. Doch trotzdem half er Mutter noch im Garten. Sie schaffte nicht alles alleine. Aber sie hatten wenigstens reichlich zu essen: Gemüse, Beeren, Kartoffeln und Eier. Nur kein Obst und keine gute Butter. Ich ging oft über Land, schacherte ein bisschen zusammen und schickte es nach Hause. Aber allzu viel hatten die Menschen hier ja auch nicht. Nur Obst, das wuchs 108 an den Straßen. Die Bäume hingen so voll, dass wir nur zuzugreifen brauchten. Das ging mir alles durch den Kopf. Ich war abends todmüde und schlief bald ein. Morgens wachte ich durch Dötkens Kreischen auf. Sie wollte schon erzählen. Aber ich verstand nichts. Dann holte ich sie erst mal zu uns ins Bett. Haben wir drei geschmust! Edith war immer außer sich vor Freude und wurde ein bisschen laut. Dann stand ich auf und zog mich an. »So, Edith, jetzt schnell, sonst gibt es nichts mehr zu essen!« Dann wurde sie flink. Dötken badete ich immer nach dem Frühstück, dann bekam sie einen Zwieback mit Alete-Milch. Unser Papa hatte reichlich geschickt. Die Familie ging gleich aufs Feld, ich machte wie immer den Haushalt. Das war ein ganz schönes Stück Arbeit. Nur ihr Schlafzimmer machten sie selbst. Ich tat es gern. Der Großvater war glücklich, wenn er alleine mit uns war. Er sagte einmal zu mir: »Frau Niggetiet, das Dötken werden Sie nicht behalten. Sie ist ein kleiner Engel und gehört dem Himmel.« »Aber Opa, sagen Sie so was nicht wieder! Sie haben mich vielleicht erschreckt.« »Oh, das wollte ich nicht.« »Schon gut, ich weiß, dass Sie es nicht böse gemeint haben.« Ich wusch noch schnell die Wäsche; jedes Teil wurde auf ein Brett gelegt und mit einer Bürste geschrubbt. Dann hängte ich die Wäsche nach draußen. Wir hatten unten im Schuppen Leinen gespannt. Die Wäsche war blütenweiß. Opa meinte: »Frau Niggetiet, lassen Sie sich nur nicht ausnutzen! Ich finde, meine Familie hält das alles schon für selbstverständlich.« 109 »Ach, Opa, Sie meinen es gut mit mir, aber ich tue es gern.« »Oh, Kind, verrate mich ja nicht!« »Wie könnte ich? Dazu habe ich Sie viel zu lieb.« Er war wirklich ein armer alter Mann. Ich versuchte, ihm das Leben leichter zu machen. Dafür war er so dankbar. Edith und auch Dötken hingen sehr an ihm. Herrn Pias ging es oft gegen den Strich, wenn seine Familie ihn wie ein Stück Dreck behandelte. Aber er hatte aufgegeben, denn gegen drei kam er nicht an. Sonst hatte die Familie ein herzliches Verhältnis zueinander. Nachmittags trafen wir uns meistens. Meine Bekannten holten mich dann bei Pias’ ab. Dann ging das Geschnatter los. Frau Pias rief: »Edith, du hast die Butterbrote vergessen.« Sie hatte auch ein paar Äpfel und eine Flasche Milch eingepackt. Änne steckte alles unten in den Wagen und spielte noch mit Dötken. »So, jetzt haut aber ab, sonst lohnt es sich nicht mehr!« Frau Pias rief noch: »Vielen, vielen Dank, Frau Niggetiet, ich habe mich so gefreut, dass Sie die Wäsche gewaschen haben, da kann ich mich mal eine Stunde hinlegen. Laufen Sie nicht mehr so weit, Sie haben so viel geschafft.« »Ich bin ja noch jung. Wir werfen uns irgendwo ins Gras.« »Viel, viel Spaß, bis heute Abend!« Die Kinder rannten schon voraus. Am Hügel machten sie Halt. Ich nahm Dötken aus dem Wagen, legte sie neben uns auf eine Decke. Aber sie rutschte immer wieder runter. Das ging fast eine ganze Stunde lang. Frau Drewes war traurig, der kleine Mann lag immer noch da, obwohl er doch ein halbes Jahr älter war. 110 Frau Möhle sagte: »Die Ruhe hat er bestimmt von dir geerbt.« Frau Drewes antwortete: »Dich trete ich gleich irgendwohin!« »Langsam«, sagte ich, »ihr wollt euch doch nicht streiten.« »Ach, Hilde, ist doch alles nur Spaß.« Dötken war müde. Ich legte sie in den Wagen. Die Großen tollten immer wieder den Abhang hinunter. »Wer es von euch dreien am schnellsten schafft!« Edith rief: »Meine Mutti natürlich!« »Sei dir da nur nicht so sicher, du kleiner Fratz.« Die Kinder kugelten sich vor Lachen. Frau Möhle war fast so breit, wie sie lang war. Ihre Kinder schrien: »Mutti, du rollst bestimmt wie ein Fass!« Es muss ein Bild zum Schießen gewesen sein, als wir so nebeneinandergelegen haben. Ich sagte: »Eins, zwei, drei!« Da kullerten wir mit einem Tempo runter bis in die Wiese. Vor Lachen kamen wir nicht mehr hoch. Ich frage: »Wer war denn nun die Erste?« Niemand wusste es. Also das Ganze noch einmal, aber jetzt gut aufgepasst, wer zuerst ins Ziel kommt. Christel und Edith stellten sich unten hin, Hans Hildebrandt blieb oben stehen, damit wir nicht schummelten. Jetzt zählte der Junge ab. Ich gab mir einen Schubs, aber Frau Möhle rollte tatsächlich wie ein Fass und war als Erste unten. Wir lachten uns halbtot. »Kinder, jetzt wird es aber Zeit, nach Hause zu gehen.« Als ich in den Wagen schaute, traf mich fast der Schlag: »Kommt schnell und seht euch das an! Dieses Schweinchen hat ihr Häufchen gemacht und alles ver- 111 schmiert.« Das Gesichtchen war tatsächlich nicht mehr zu erkennen. Die anderen wollten sich halb totlachen. Ich wischte das Gröbste ab. »Was wird Frau Pias sagen?« Ich rannte so schnell ich konnte nach Hause. »Frau Niggetiet, Sie sind ja ganz abgekämpft, was ist geschehen?« »Schauen Sie nur in den Wagen!« Sie platzte gleich los vor Lachen, und Änne und Herr Pias mit. »Frau Niggetiet, ich helfe Ihnen schnell. Der Schaden ist gleich behoben.« »Wir hatten so viel Spaß, da habe ich gleich gesagt, das gibt noch was heute Abend.« »So, ich denke, die Kleine schläft.« Frau Pias übernahm den Wagen. Ich badete Dötken. »Sehen Sie, Frau Niggetiet, jetzt konnte ich auch mal etwas für Sie tun.« »Das stimmt doch nicht. Sie sorgen dafür, dass wir uns an jeder Mahlzeit sattessen können. Das erfordert viel Arbeit und Sorge. Es sind ja immerhin drei Menschen. Es ist das Schönste für mich, immer am gedeckten Tisch zu sitzen. Sie kochen so leckere Sachen. Das Brot zu backen macht so viel Arbeit.

Biografische Werke mit familiengeschichtlichem Hintergrund

Das Buttern dauert eine ganze Stunde. Ihr Garten ist ein Schmuckstück. Ihre Blumenkisten. Sie haben die schönsten Blumen in der ganzen Rosenbergstraße. Alles muss gehegt und gepflegt werden. Und von alldem zehre ich mit.« »Frau Niggetiet, so ein schönes Lob habe ich in meinem Leben noch nie bekommen.

Familiensaga aus dem Ruhrpott: Tief verwurzelte Geschichten

Ich weiß, was wir Frauen schaffen, ist eine Selbstverständlichkeit.« »Frau Pias, jetzt muss ich die Kinder ins Bett bringen. Vielleicht komme ich noch für eine Stunde runter, wenn Edith schnell einschläft. Morgen ist Sonntag, da können wir ja alle ein bisschen länger liegenbleiben.« 112 Ich hatte Glück, Edith schlief gleich ein, da konnten wir noch ein bisschen erzählen. Und Änne backte noch schnell einen Streuselkuchen. In den Spätnachrichten hörten wir, dass das Ruhrgebiet von einem furchtbaren Bombenangriff erschüttert worden war. Wir waren entsetzt. »Ich habe es doch gesagt, dass heute Abend noch etwas Schreckliches passiert.« Frau Pias versuchte, mich zu beruhigen: »Aber Frau Niggetiet, das Ruhrgebiet ist groß. Ihr Mann und Ihre Angehörigen wohnen doch abseits, da werfen die ihre Bomben nicht ab. Die wollen doch nur die Fabriken treffen.« Aber meine gute Laune war hin. Ich betete! Ich konnte einfach nicht einschlafen. Mein Erwin hatte sich sofort hingesetzt und einen langen Brief geschrieben. Er wusste, was ich mir für Sorgen machte. Auch Erich schrieb wenigstens jede Woche ein- bis zweimal, damit wir ja kein Heimweh bekamen. Als ich am Montag die Briefe in Empfang nahm, war ich beruhigt und erzählte es gleich meinen Bekannten. Frau Möhle hörte nichts von ihrem Mann. Frau Drewes Mann war nicht an der Front. Sie bekam öfter Post. Er hatte seinen Sohn aber auch noch nicht gesehen. Die Kinder merkten ja nichts vom Krieg, und das war gut so. Wir verlebten eine herrliche Zeit, waren immer für die Kleinen da. Ich hatte mich schon prima erholt. Edith hatte dicke roten Backen. Auch unser Dötken blühte ein bisschen auf. Ich dachte längst nicht mehr daran, was Großvater gesagt hatte. Sie stand schon auf ihren zarten Beinchen. »Bald läuft sie daher«, meinte Frau Pias. »Daran glaube ich nicht.« 113 Jetzt waren wir schon zwei Monate hier. Die Zeit ging so schnell rum. Der Sonntag war immer am schönsten. Da pflegten sich die Frauen! Änne polierte stundenlang ihre Fingernägel. Ich war sprachlos. Wenn sie dann alle zusammen zur Kirche gingen, sah man ihnen nicht an, dass sie eine Bauernfamilie waren. Sie erweckten den Eindruck, als stammten sie aus den feinsten Kreisen. Nachmittags schrieb Änne, obwohl sie einen festen Freund hatte, an unbekannte Soldaten. Da musste ich wieder diktieren. Was bekam sie für liebe und dankbare Briefe zurück. Änne meinte dann: »Das geht alles auf Ihr Konto, Frau Niggetiet.« »Änneke, es war deine Idee.« »Aber am meisten freuen sie sich über Ihre Verse. Ich weiß nicht, wie Sie so was schaffen.« »Weißt du, Änne, die herrliche Gegend inspiriert mich, und ich kann mich so richtig in die Lage der armen Jungens versetzen. Immer den Tod vor Augen. Aber unsere Leute daheim sind auch arm dran, sie haben keine Verteidigungsgelegenheit, müssen warten, bis man ihnen die Bomben auf die Häuser wirft. Ihr könnt es euch gar 114 nicht vorstellen. Oft verbrannten sie in ihren Luftschutzkellern, wollten sich durch die Kellerfenster retten und schmorten durch den Phosphor an den Eisenstäben fest. Kinder, es ist grauenhaft! Nach dem Angriff auf Wuppertal-Elberfeld wollten sich die Menschen in die Wupper retten, aber sie kamen nicht so weit, schmorten auf den Asphaltstraßen fest und verbrannten. Wir konnten von uns aus den Angriff beobachten. Wir haben alle geheult wie die kleinen Kinder. Oh Gott, ich will nicht mehr daran denken! Wir können doch nichts ändern. Hoffentlich nimmt das bald ein Ende! Darum bin ich auch so dankbar, dass ich mit meinen Schätzchen bei Ihnen sein darf.« Frau Pias sagte: »Das ist doch selbstverständlich. Es könnte genauso gut umgekehrt sein. Aber jetzt trinken wir erst mal Kaffee und essen Kuchen.« Sonntags blieben wir meistens mit Familie Pias zusammen, dann war es so gemütlich. Die anderen Tage sahen wir uns fast nur bei den Mahlzeiten. Abends ging ich früh mit den Kindern ins Bett. Ich war dann auch geschafft. Die Kinder konnten einen ganz schön strapazieren! Es waren ja sieben Rabauken, da war oft was los. Im Herbst kam Edith in die Schule. Erwin schickte einen Tornister, Tafel und Griffel. Omi hatte sogar einen Riegel Schokolade organisiert. Hat sich die Kleine gefreut! Christl und die Jungen hatten schon ein Jahr hinter sich. Jetzt waren sie zu dritt. Die ersten zwei Tage ging ich mit. Edith war eine fleißige Schülerin. Ich brauchte nicht zu helfen. Die Jungen waren nicht so aufmerksam. Wenn es mal regnete, durften meine Bekannten mich besuchen. Wir saßen dann in der großen Diele zusammen und erzählten. Ich handarbeitete oft. Wenn ich nur ein paar bunte Blümchen in die 115 Blusen stickte, sahen sie nicht mehr so steif aus, und Familie Pias war glücklich. Alles natürlich nach eigener Fantasie. Ein Muster hatte ich ja nicht. Den Briefen von zu Hause meinte ich zu entnehmen, dass sie Heimweh hatten, besonders mein Erwin. Aber wir mussten aushalten. Für uns war es ja auch nicht ganz so schwer, hatten wir doch die Kinder bei uns. Heute hatte Frau Pias uns einen Tipp für einen Ausflug gegeben. Es war ein weiter, weiter Weg immer durch den Wald. Endlich waren wir am Ziel, vor uns lag ein großer See mitten im Wald, auf diesem ein wunderschönes Café. Wir saßen direkt über dem Wasser, bestellten uns Kuchen und zu trinken. Die Kinder wollten Eis. Dann rannten sie um den See herum. Wir hatten Angst, dass sie ins Wasser fielen, und machten uns auf den Heimweg. Aber da passierte es: Von meinem Kinderwagen hatte sich ein Rad gelöst und rollte den ganzen Berg hinunter. Die Frauen rannten hinterher. Ich krümmte mich vor Lachen. Die Kinder auch. Ich musste den Wagen auf drei Rädern weiterschieben. Endlich kamen sie wieder zurück, natürlich ganz aus der Puste. »Hilde, das schaffen wir schon!« Aber immer wenn wir dachten, das Rad säße fest, hatte es sich schon wieder selbständig gemacht. Doch die beiden waren auf Draht. »Mensch, Hilde, noch mal den Berg rauf und runter schaffen wir nicht. Ein Kilo haben wir bestimmt abgenommen.« Da kam ein junger Mann und fragte: »Was ist denn mit Ihrem Wagen los?« Ich antwortete: »Das Rad hat sich selbständig gemacht.« Er meinte: »Das werden wir gleich haben.« Waren wir Frauen glücklich! 116 Ich wollte ihm ein paar Mark für Zigaretten geben. »Oh nein, kein Geld. Wenn, dann laden Sie mich zu einer Tasse Kaffee ein.« Das war natürlich was für Frau Möhle; sie sagte gleich zu. Dötken sah uns so treu mit ihren großen blauen Augen an, als wollte sie sich über uns lustig machen. »Mensch, Kinder, das war wieder ein Tag!« Selbst Großvater amüsierte sich, als ich es zum besten gab. Herr Pias meinte: »Hildchen, an dir ist wirklich ein Komiker verlorengegangen. Immer in Stimmung und guter Laune, was auch geschieht.« Ich dachte: Wie es da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. Ich hatte auch meine Sorgen. Wie schnell konnte zu Hause etwas passieren.