Entdecken Sie Ruhrpottstorys dystopisches Picknick

                                                                                                                                           

Nur ein Picknick

Wir schreiben das Jahr 2237. Liebe ist verboten. Kinder kommen nur noch aus der Retorte. Mit ihren 37 Jahren gehört Merit zu den letzten, die noch natürlich geboren wurden.

Als sie noch ein kleines Kind war, hat ihre Oma ihr Geschichten von Wäldern, Seen und vielen Tieren erzählt. „Großpapa und ich haben im Wald weit draußen vor der Stadt jeden Monat einmal ein Picknick gemacht. Dort hat Opa um meine Hand angehalten.“

„Was ist ein Picknick, Oma?“

Dann holte Oma ihren alten Picknickkorb aus dem Keller und erklärte der kleinen Merit, was alles zu einem guten Picknick gehört. Sie erzählte so toll, dass sich Merit jede Einzelheit in ihrer Phantasie ausmalen konnte.

Heute sitzt Merit an ihrem Computer und muss ständig an die Geschichten ihrer Oma denken. Ihr Job in einer großen Softwarefirma in Witten lässt ihr genug Spielraum, um ihre Gedanken kreisen zu lassen. Natürlich nur ihre Gedanken.

Seit bestimmt fünfzig Jahren hat kein Mensch mehr einen Fuß vor die Stadtmauern gesetzt. Es heißt, fürchterliche Kreaturen würden in der Wildnis hausen. Deshalb seien die Stadtmauern auch so intensiv bewacht.

Zumindest behauptet das der Stadtrat.

Warum mehrere Menschen erschossen wurden, als sie aus der Stadt wollten, konnte indes niemand erklären. Erstaunlicherweise gab es kaum Nachfragen.

Auch auf dem Heimweg muss Merit ständig an die Geschichte ihrer Großmutter denken. Der Gedanke lässt sie nicht los.

Zu Hause angekommen klingelt sie bei Jan, ihrem Nachbarn im 79. Stock.

Genau genommen kennt sie ihn kaum. Er lächelt sie immer sehnsüchtig an und scheint nett zu sein. Außerdem kennt sie sonst niemanden. Familie hat sie nicht. Während der Arbeit gibt es keine Berührungspunkte mit Kollegen.

Freunde - Fehlanzeige.

„Lust auf nen Kaffee?“, fragt sie.

Jan ist überrascht. „Ja, klar. Warum nicht? Jetzt sofort?“

„Ja, jetzt.“ Zusammen gehen sie in ihr Appartement.

Jan ist ganz aufgeregt. Seit er vor drei Jahren eingezogen ist, steht er auf Merit.

Er hat sich nur noch nicht getraut, es ihr zu sagen. Angst hat er auch. Liebe wird von den Cops schwer bestraft.

Nach dem dritten Gin Tonic erzählt Merit ihm von ihrer Großmutter und zeigt ihm den Picknickkorb. Der ist bis oben hin gefüllt. Jan steigt der Geruch von frisch belegten Broten in die Nase.

„Kommst du mit?“

„Wohin?“ Jan ist irritiert. Erst langsam verbindet er ihre Frage mit dem Picknickkorb und der Geschichte von ihrer Oma.

„Nur ein wenig Freiheit.“ Merit lächelt Jan an. Da ist es um ihn geschehen.

„Okay.“ Seine Antwort kommt ohne jegliches Nachdenken. Egal, ein leichtes Kribbeln erfasst ihn. „Kennst du einen Weg? Sie sagen, die Wachen erschießen jeden, der die Stadt verlässt.“

„Ja. Frag aber nicht, woher.“

Kurz darauf ziehen sie los. Merit in einem Blümchenkleid, Jan in Jeans und weißem Hemd. Niemand, der sie so sieht, wird denken, dass sie die Stadt verlassen.

Abrupt schwenkt Merit ab. Sie betreten eine still gelegte Seifenfabrik. Merit klettert voran in den Keller. Nur ihre kleine Taschenlampe spendet Licht. Überall sind leise, scharrende Geräusche zu hören. „Keine Angst. Sind nur Ratten.“

Jan hätte nie geglaubt, dass Merit so taff ist. Dann stehen sie vor einem Rohr mit mindestens zwei Meter Durchmesser. Mit einem Gitter gesichert. Merit lächelt und zieht das Tor auf.

„Das Schloss gibt’s nicht mehr.“ Sie steigen in das Rohr.

„Wo kommen wir raus?“

Fantasy-Abenteuer im Ruhrgebiet erleben

„Naja, weiter als bis hier war ich noch nicht.“

„Und wenn das eine Sackgasse ist?“ Mit Jans Ruhe ist es wieder vorbei.

„Dann dreh‘n wir um.“ Merit geht vor. Zehn Minuten später erkennen sie Licht am Ende des Rohrs. Vorsichtig treten sie, leicht geduckt, ins Freie. Dreißig Meter vor ihnen liegt der Wald. Dazwischen freie Wiese.

„Und jetzt?“ Jan schwitzt.

„Wir gehen.“ Merit bewegt sich auf den Wald zu. Jede Wache, die in ihre Richtung blickt, wird sie augenblicklich entdecken. Jan ist sofort neben ihr. Die dreißig Meter kommen ihnen wie Kilometer vor. Ihre Rücken sind ganz steif und kribbeln fürchterlich. Sie rechnen jede Sekunde damit, angerufen oder beschossen zu werden. Der Wald scheint nicht näher zu kommen. Dann endlich! Zusammen erreichen sie die ersten Büsche. Beide atmen hörbar durch. Die Anspannung löst sich. Ganz ruhig machen sie sich auf die Suche nach dem Platz für ihr Picknick. Nach knapp einem Kilometer werden sie fündig. Ihre Lichtung. Nicht groß, aber voller Blüten. Die Sonne scheint durch die Blätter. Es ist ganz still. Den ganzen Tag genießen sie die Zweisamkeit. Es ist der romantischste Tag ihres Lebens.

Im Lauf der Stunden kommen sich die Beiden immer näher.

Der Tag gipfelt bei Einbruch der Dämmerung in einem innigen Kuss.

„Wir müssen los.“ Jan fasst Merits Hand.

Merit schaut ihm lange tief in die Augen. „Welche Richtung?“

Einzigartige Dystopie in der Buchreihe