Mut

Lebensmittel waren rar geworden. Gerade erst hatte der Russlandfeldzug begonnen. Da mussten überall in Deutschland die Gürtel enger geschnallt werden.

Ich war im Fronturlaub und wollte mir im Kolonialwarenladen bei Herrn Meier etwas Besonderes gönnen. Herr Meier verkaufte neben seinem außergewöhnlichen Kram die besten Lebensmittel im Umkreis von hundert Kilometern. Vor mir bediente er Frau Koch, die mit ihren fünfzig Jahren noch sehr adrett daher kam. Sie war früh zur Witwe geworden, ihr Mann ist im Ersten Weltkrieg, im Einsatz gegen die Franzosen, gefallen.

„Guten Tag, Frau Koch, was kann ich für Sie tun?“ Manchmal nervte mich Meiers überfreundliches Getue.

Frau Koch gab eine ellenlange Bestellung auf. „Das ist aber eine Menge. Bekommen sie Besuch?“ Meier nervte heute besonders.

„Nein, Herr Meier, ich habe einen großen Nähauftrag angenommen und komme deshalb einige Zeit nicht raus. Da brauche ich doch einen großen Vorrat.“

Eigentlich ging es mich ja nichts an, aber Frau Koch lügte so offensichtlich, dass ich aufhorchte. Sie verließ den Laden.

Ich gönnte mir eine gute Tafel Schokolade und folgte ihr langsam. Ich konnte mir Zeit lassen. Das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe wies mir den Weg. Ihre Schritte wirkten nervös. Sie verließ Wittens Einkaufstrasse Richtung Ruhr. Ich war so weit hinter ihr, dass sie mich nicht bemerkte. Dafür schien sie einen anderen Verfolger ausgemacht zu haben, der mir entgangen ist: Groß,

dunkler Mantel, schwarzer Hut. Auffälliger konnte man sich nicht anziehen, wenn man jemandem folgen wollte. Doch dieser Mann wollte gesehen werden. Das Lächeln in seinem Gesicht als Frau Koch ihn bemerkte und ihre Schritte beschleunigte sprach Bände. Ich hätte mich eigentlich jetzt schnellstens aus dem Staub machen sollen. Der Typ roch meilenweit gegen den Wind nach Gestapo. Und schließlich wollte ich meinen Fronturlaub genießen, bevor die Russen wieder auf mich schießen. Mit Sicherheit wollte ich keine Schutzhaft riskieren. Aber die Situation ließ mich nicht los. Ich konnte die Panik im Gesicht von Frau Koch erkennen. Sie verschwand in der Unterführung der Bahn. Der Geheimpolizist war jetzt keine fünf Meter mehr hinter ihr. Ich hielt meinen Abstand. Bevor ich die Unterführung betrat lauschte ich einen Moment. Dann tauchte ich in das Dunkel ein. Nach einigen Metern strauchelte ich. „Verdammt, was ist das?“ Ich wagte es ein Streichholz anzuzünden. Ich hielt es knapp über den Boden. Eine Hand griff aus der Dunkelheit nach meinem Arm. Ein leises Röcheln ertönte. Vor mir lag der Gestapo-Typ. Die Kehle sauber durchtrennt. Stetig pumpte das Herz seinen Lebenssaft aus der offenen Arterie. Er griff meinen Arm fester, wollte etwas sagen und erschlaffte.

„Das kann doch unmöglich die nette Frau Koch gewesen sein.“ Ich konnte gar nicht fassen was hier passierte. Wie gebannt ging ich weiter. Jetzt viel vorsichtiger. So wie der Geheimpolizist wollte ich nicht enden. Ich wusste, dass ich eigentlich die Polizei rufen sollte. Tat es aber nicht. Fünfzig

 Meter vor mir betrat Frau Koch die belebte Parkstraße. Sie wirkte überhaupt nicht mehr nervös und panisch. „Wer oder was ist sie?“ Meine Neugier wurde immer größer. Ich kam ihr langsam näher.  Am Mühlengraben verlor ich sie aus den Augen. Aufmerksam beobachtete ich das Gelände. Da sah ich sie in die kleine Villa auf der anderen Straßenseite verschwinden. Vorsichtig näherte ich mich dem Haus. Auf der Rückseite versuchte ich einen Blick ins Innere zu werfen. Da spürte ich kalten Stahl an meinem Hals. Ich erstarrte. Kein Muskel zuckte. Der Geheimpolizist war ein warnendes Beispiel. „Ich bin nicht von der Gestapo“, flüsterte ich.

„Ich weiß, Fritz, wenn ich dich nicht kennen würde, wärst du schon tot.“ Der Druck des Stahls an meinem Hals ließ keinen Deut nach. „Was treibst du hier?“

„Ich war nur neugierig.“

„Neugier kann töten!“

Ein „Hab ich gesehn“ konnte ich mir gerade noch verkneifen. Das wäre jetzt kaum angebracht. „Dein Wort, Fritz, dass du die letzten Stunden aus deinem Gedächtnis löschst, dann kannst du gehen.“

„Sie haben mein Wort.“ Der Stahl löste sich von meinem Hals und Frau Koch verschwand ohne Kommentar in der Villa.  Ich konnte es nicht lassen und warf noch einen Blick durch das Fenster. Frau Koch führte gerade eine bekannte jüdische Familie zum Hinterausgang.

Ihren Mut wünschte ich mir für meinen Fronteinsatz!