Ungewissheit

2014 im net-Verlag erschienen. Mit einer Zeichnung von Jonah Krämer.

Seit nur noch wenige Menschen in diesem Gebiet leben, ist die Luft viel klarer und das Grün der Pflanzen viel intensiver geworden.

Ich kann daran nichts Schlimmes finden.

Wenn man  genau hinsieht erkennt man meine Silhouette unter dem silbernen Mond. Es ist eine laue Sommernacht.  Die warme Luft unter meinen Flügeln lässt mich mein knappes Pfund Gewicht kaum spüren. Ich genieße die Freiheit. Nichts stört meinen Flug. Langsam gleite ich über Wittens größtes zusammenhängendes Waldgebiet; mein Revier.

In der Ferne höre ich eine Maus fiepen. Lautlos nähere ich mich meiner Beute. Nur ein Waldkauz wie ich kann sich derart leise bewegen. Die Maus hat keine Chance. Meine messerscharfen Krallen schlagen in ihr Genick. Mit dem Kopf im Nacken schlucke ich den noch warmen, blutigen Körper. Befriedigt bewege ich mich wieder in die Luft. Nahrung gibt es für mich in Hülle und Fülle.

Seit die Seuche vor einigen Jahren die meisten Menschen und viele der großen Säugetiere dahin gerafft hat, haben sich die kleinen Nager massenhaft vermehrt. Und nur ein alter Habicht macht mir Konkurrenz bei der Jagd.

In Durchholz, wo ich im Giebel eines verlassenen Bauernhofs meinen Unterschlupf habe, gab es schon vor der Katastrophe nur wenige Menschen. Jetzt lebt nur noch eine Familie hier. Eric, seine Frau Lena und ihre kleine Tochter Nanuk.

Das große Haus, in dem sie wohnen, ist ein kleines Paradies. Das Paar hat die schönsten Sachen, die im ausgestorbenen Durchholz zu finden waren zusammengetragen. Im Garten gibt es Klettergerüste und einen großen Pool für Nanuk. Das Gelände ist mit einer großen Bruchsteinmauer mit S-Draht oben drauf abgesichert. Der Garten ist Nanuks Reich. Hier tobt sie den ganzen Tag herum.

Wenn ich in der Dämmerung zu ihr fliege, kreischt sie immer und tut so, als würde sie sich vor mir erschrecken. Dann lacht sie laut los. Das Spiel ist schon zum Ritual geworden. Manchmal sitzt sie aber auch nur ganz ruhig am Pool und schaut traurig ins Leere. „Mom, warum gibt es hier keine anderen Kinder zum Spielen?“, fragt sie dann und Lena nimmt sie nur stumm in den Arm.

Erik, der fast zwei Meter große Menschenmann, ist heute Morgen an mir vorbei Richtung Stadt gelaufen. Die rhythmischen Bewegungen seiner geschmeidigen Muskeln ließen die langen braunen Haare wild um seinen Kopf fliegen. Trotz seiner abgewetzten Kleider macht er, mit dem über den Rücken gebundenem Schwert, einen imposanten Eindruck.

An seiner Seite der große Germanische Bärenhund Odin, 70 Kilo Muskeln. Sein Kopf ist riesig. Die großen Pfoten würden mich komplett unter sich begraben. Meistens betrachtet er ein bisschen schläfrig die Welt, und niemand würde auf den Gedanken kommen, dass sich dieses Tier schnell bewegen kann.

Mit Odin verbindet mich etwas. Ich verstehe es nicht, aber es ist da. Er bemerkt sofort, wenn ich in seine Nähe komme. Dann stiehlt sich immer ein belustigtes Leuchten in seine Augen. Ich fühle dabei so etwas wie eine leichte Berührung in meinem Kopf. Es macht mir Angst.

Aus purer Langeweile begleite ich die Beiden durch den friedlich wirkenden Wald bis zur Stadtgrenze.

Dann werde ich ein wenig durch Lea, einem niedlichen Waldkauzmädchen abgelenkt. Lea ist das heißeste Käuzchen der Gegend. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und unter meinem Gefieder wird mir ganz warm. Ich versuchte alles, um sie in mein Nest zu locken. Heute brachte ich ihr die fetteste Maus, die je von einem Kauz gefangen wurde. Ich zeigte die halsbrecherischsten Flugmanöver, die ein Waldkauz vollbringen kann. Es half alles nichts, sie ließ mich abblitzen, wie immer. Nach diesem Desaster zog ich frustriert meine Kreise im Wald.

Erst die kleine Zwischenmahlzeit besserte meine Stimmung wieder auf.

Im Wald ist es jetzt unnatürlich still. Kein Laut ist zu hören. Beunruhigt schraube ich mich hoch in die Luft. Irgendetwas stimmt hier nicht. Jetzt sehe ich Erik wie einen Irrwisch durch den Wald jagen. Den großen Hund lautlos rennend an seiner Seite. Ich schraube mich höher in die Luft. Nun sehe ich den Grund für Eriks Eile: Ein dutzend Roks, die über eine Lichtung eilen.

Mutanten, die kaum noch menschliche Züge haben. Entstellt von der Seuche. Haarlos, mit Zähnen wie Raubtiere und Händen, die an Klauen erinnern. Am ganzen Körper behaart tragen sie nur Shorts. Alle sind bewaffnet. Rostige Schwerter, schartige Messer und schwere Äxte sind zu erkennen.

Roks töten alles, was ihnen begegnet. Sie werden von einem unbändigen Hass auf alle Lebewesen getrieben. Einige von ihnen fressen auch Menschenfleisch. Diese Mutantenmeute bewegt sich zielstrebig auf Eriks Haus zu. Dabei sind sie erstaunlich leise. Ich hoffe, Erik kann sie rechtzeitig stoppen.

Als würde er meine Gedanken lesen, schaut mich der große Hund mitten im Laufen an. Ich kreische auf. Irgendetwas berührt meinen Geist. Fester und intensiver als sonst. Der Hund blickt seinen Herrn an. „Okay!“ Nur dieses eine Wort, und Odin schießt los. Sekundenschnell holt er die Mutanten ein. Ich fliege tiefer, um besser sehen zu können. Da liegen bereits zwei der Roks mit zerfetzter Kehle im Dreck. Der Rest der Meute bildet einen Kreis, damit der Hund sie nicht einzeln angreifen kann. Wütend schwingen sie ihre Waffen.

In diesem Augenblick kommt der Mann über sie. Sie müssen erleben, dass die größte Gefahr nicht von dem Hund ausgeht. Der ist der Harmlose des Duos. Erik hat sein antikes Samurai- Schwert  in der Hand. Die zarten Runen im Griff glühen. Die gleichen Runen, die auf Eriks Schulter tätowiert sind.

Bevor der erste Mutant reagieren kann, tränkt bereits das Blut dreier seiner Brüder den Waldboden. Während Erik einem weiteren Gegner mit gewaltiger Kraft den Körper zerteilt, schwingt der Anführer der Meute seine Äxte gegen Eriks Kopf. Erik taucht ab. Die Äxte zerteilen nur noch die Luft. Der Rok faucht wütend. Erik taucht hinter ihm auf und zerfetzt ihm die Sehnen der Kniekehlen. Das schmerzerfüllte Gebrüll ihres Anführers jagt den Rest der Meute in die Flucht. Erik erlöst den Mutanten von seinen Schmerzen.

„Gut gemacht, Odin.“ Liebevoll krault der Mensch seinem großen Hund den Kopf, dann reinigt er sein Schwert von dem grünlichen Blut der Mutanten.

Weder Erik noch sein Hund atmen schneller. Erik wirkt völlig entspannt. Von dieser Meute geht keine Gefahr mehr aus. „Na komm, Odin. Die Mädels warten bestimmt schon auf uns. Ich hab` schöne Sachen für sie in der Stadt gefunden. Die Plünderer haben einiges beim Juwelier übersehen.“

Langsam machen sich die Zwei wieder auf den Weg. Inzwischen fliege ich voraus zu Eriks Haus. Manchmal legt mir Lena einen Leckerbissen hinaus. Doch heute ist sie nicht zu sehen. Dafür steigt Rauch aus allen Fenstern. Aus der Musikanlage tönt laute Rockmusik.

Ich fliege tiefer und gleite durch das Dachfenster ins Haus. Die Schränke sind umgekippt, die Matratzen aufgeschnitten, alles Glas ist zerschlagen und überall sind kleine Brandherde. Aber es gibt keine Spur von Leben. Geschockt fliege ich zurück und nehme widerstrebend Kontakt mit dem Hund auf.

Keine Ahnung, wie Odin es schafft, seinen Herrn zu informieren, aber die beiden rasen sofort los. Dann nähert sich Erik vorsichtig dem Anwesen. Mit einem Stab schiebt er die Haustür auf. Schüsse fallen. Erik wirft sich auf den Boden. Jemand hat die Tür mit einer Selbstschussanlage gesichert. Wäre Erik durch die Tür gegangen, wäre er jetzt tot. Das konnten kein Roks gewesen sein, denn die benutzen keine Schusswaffen, überlege ich.

Angespannt betritt Erik das Haus und durchsucht alle Räume. Die Gewalt, die hier gewütet hat lässt ihn zittern. Dann sinkt er auf einen alten Stuhl und vergräbt die Hände im Gesicht. „Keine Spur von ihnen, Odin. Aber auch keine Leichen. Sie müssen sie mitgenommen haben. Das waren keine Roks, mit denen wäre Lena fertig geworden. Was sie nur mit den beiden wollen? Verdammte Ungewissheit!“

Noch während er das sagt straffen sich seine Schultern und auf seinem Gesicht zeigt sich eisige Entschlossenheit. „Wir müssen los, Hund. Sorg dafür, dass die Eule mitkommt.“

Nach einem mitfühlenden Blick auf seinen Herrn macht mir der Hund klar, dass ich bei der Suche dabei bin. Ich werde der Kundschafter sein. Ein leichter Schauder schüttelt meinen Körper. Wenn sie Schusswaffen haben, bin ich auch in der Luft nicht sicher. Andererseits; stehen Mädels nicht auf Abenteurer? Lea wird mich lieben! Aufgeregt fliege ich los.

Wir werden Eriks Familie retten.